Dienstag, 3. Februar 2009

Das Bild , das Wort und die Aktion: Migrant_innen in der Revolte

Wenn Du aus dem 10. Stock eines Hochhauses oder aus den Fernsehsendern die Straßen der Revolte beobachtest, kannst Du die Menschen nicht gut charakterisieren oder ihre Identitäten erkennen.
Aber wenn Du auf der Straße warst, konntest Du spüren, was geschah.
Neben Dir hast Du Student_innen gesehen, Schüler_innen, Flüchtlinge, Migrant_innen, Menschen aus der "Szene" und Menschen, von denen Du nie gedacht hättest, sie neben Dir auf einer Demo zu sehen, Menschen jedes Alters.
Eine Menschenmenge, die an nichts erinnerte, was wir in Griechenland bisher erlebt haben. Eine Menschenmenge, die - immer wenn sie auf der Straße war - eins wurde. Verbunden durch Solidarität und Freundschaft.
Es waren überall Flüchtlinge und Migrant_innen da, überall: bei den Demos im Politechnikum, bei den Blockaden der Schüler_innen, am Strassenrand, bei den zerstörten Geschäften. Der Teil der Gesellschaft, der am meisten unterdrückt wird, der Teil, der alltäglich die Polizeigewalt am eigenen Leib spürt, von Straßenkontrollen bis zu Abschiebungen an den Grenzen, von der staatlichen Gewalt und Bürokratie bis zu den Toten in der Ägäis.
Alle waren da. Sie hatten sowieso nicht viel zu verlieren.

Denn diese Tage von Alexis sind auch die, von all denen, die in Unsicherheit leben, in Angst, Tage von all denen, die wollen, dass sich alles ändert.

Die zweite Generation Migrant_innen war auf der Straße zusammen mit ihren Mitschüler_innen - nichts trennt sie mehr voneinander: sie leben in den gleichen Vierteln, sie sitzen an den gleichen Schultischen, träumen die gleichen Träume.
Die zweite Generation, die keine mehr Angst hat, die nicht gebückt läuft:
weil sie Teil dieser Gesellschaft ist und ihre Rechte fordert mit Spontanität und Fantasie.
Auf den Straßen waren wir alle gleich, die Stadt war unsere:
Kein Gehorsam mehr, ein zauberhaftes Leben!

Wenn das Kameraobjektiv näher zoomte, änderte sich das Bild:10 Migrant_innen, die in einen Laden stürmen und alles mitnehmen.
Das Bild wurde ununterbrochen ausgestrahlt.
Bereits von Beginn an wurden sie von den Medien zur Zielscheibeerklärt - diese Diebe. Bewußt und direkt wurde damit auf das Besitzgefühl der Bürger_innen gezielt, damit sie
sich Sorgen um ihr Eigentum und ihre Glasscheiben machen, viel mehr als um ihre Kinder.
Das Recht auf Leben, auf Respekt und das Recht auf Eigentum werden in der Sprache der Herrschenden gleichgestellt.
Diejenigen, die beständig Staatsbesitz, Geld aus den Kassen und uns unsere Leben rauben, besitzen die Frechheit, über Diebstahl zu reden.
Diese gezielte fand nicht allein auf der medialen Ebene statt.
Die meisten Festgenommenen sind Flüchtlinge und Migrant_innen. Sie wurden auf
den Straßen verhaftet, mit zwei Uhren oder einem Rasierapparat.
Unabhängig von der sonstigen Strafe, bestraft werden sie alle - mit Abschiebung.
Für den Staat und seinen Repressionsaparat ist klar, dass wir nicht alle gleich sind.
Aber es geht noch weiter: in aktuellen Veröffentlichungen wurde der Begriff "Illegaler Terrorist" (kiriakatiki eleftherotypia 11/01/2009) erfunden.
Gibt es wirklich noch Schlimmeres als nur "Terrorist" oder nur "illegal"?
In dem Artikel wird die Sorge des Innenministeriums über eine mögliche Teilnahme von Migrant_innen bei der Epanastatikos Agonas (revolutionärer kampf) geäußert.
Wörtlich sagen sie: "es wurde die Einschätzung geäußert, dass in Migrant_innenkreisen bereits Handlungen stattgefunden haben, die es rechtfertigen, die Migrationspolitik im Rahmen der inneren Sicherheit neu zur überdenken". Die Antwort ist bekannt:
mehr Repression, mehr Polizeipräsenz, mehr Migrationskontrollen.
Diese Lösungen sind nur dazu gedacht, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu verschärfen, um die Wut zum Überlaufen zu bringen.
Für uns wurde in Dezember offensichtlich, dass Flüchtlinge und Migrant_innen im Herzen der Revolten sind, sie sind kein passiver Teil der griechischen Gesellschaft, der geduldig seine eigene Unterdrückungaushält, sie sind aktive Subjekte, die ihr Leben in die Hand nehmen - wie wir alle.
Sie haben uns an die Revolten von Los Angeles 1992 erinnert und an Paris 2005.
Aber es gab einen Unterschied in Griechenland: Migrant_innen und Griech_innen sind zusammen auf die Straßen gegangen.
Es war keine Revolte der Banlieus, es war keine Revolte einer Stadt oder einer sozialen Gruppe. Es war eine Revolte mitten in den Städten von Alexandroupolis bis Chania und von Mitilini bis Korfu, gegen die Repression und gegen die Ungerechtigkeiten, die wir alle täglich erleben.
Vielleicht noch ohne gemeinsame politische Sprache, ohne Analysen und Forderungen, aber bewegt durch den unerträglichen Alltag und von der Wut, die aus Ungerechtigkeit geboren wird. Wie in dem Text des Steki (treffpunkt) der Albanischen Migrant_innen gesagt wird:
"Diese Tage sind auch die Tage für hunderte von Migrant_innen und Flüchtlingen, die ermordet wurden an den Grenzen, in den Polizeiwachen, an ihren Arbeitsplätzen.
Sie sind Tage für alle die, die die Zähne zusammenbeißen, für all die Beleidigungen, die wir hinnehmen mussten, all die Niederlagen, die wir einstecken mussten. Sie sind die Tage für all die Male, an denen wir nicht revoltiert haben, obwohl wir alle Gründe der Welt hatten.
Diese Tage sind die Tage aller Außenseiter, aller Ausgeschlossenen, all der Menschen, die unaussprechliche Namen haben und unbekannte Geschichten.
Diese Tage sind für Gramoz Palousi, Louan Berdelima , Entison Giachai,
Toni Onoucha, Ambdurakim Indriz Modasser Asraf und all die anderen, die wir
nicht vergessen werden."
Olga Lafazani
Solidaritätsnetzwerk für Flüchtlinge und Migrant_innen
Athen Januar 2009

athen 2009